Religionsunterricht quo vadis?
Die drohende Energiekrise und steigende Preise führen bei vielen Familien zu teilweise existenziellen Sorgen – ob man warm durch den Winter kommt und was man sich noch leisten kann. Hier sind Pädagoginnen und Pädagogen in den nächsten Monaten gefordert, auf diese Verunsicherungen mit viel Fingerspitzengefühl einzugehen. An dieser Stelle könnte eigentlich gerade der Religionsunterricht eine unschätzbare Funktion übernehmen, um Ängste zur Sprache zu bringen. Doch leider hat das Fach Religion in den Corona-Schuljahren keinen Aufschwung erlebt – im Gegenteil. Zeitweise ist der Religionsunterricht an einigen Schulen gänzlich ausgefallen. Grundsätzlich verliert er bedingt durch den demographischen Wandel an Bedeutung: Erstmals liegt der Anteil der christlichen Schülerinnen und Schüler in NRW unter fünfzig Prozent – natürlich wird da die Frage nach der Existenzberechtigung des konfessionellen Religionsunterrichtes zu Recht gestellt.
Dort, wo der konfessionelle Religionsunterricht aufgrund der religionsheterogenen Schülerschaft nicht mehr durchführbar ist, ist meines Erachtens der konfessionell-kooperative Religionsunterricht eine gute Alternative. In dieser Einschätzung bestärkt mich eine wissenschaftliche Evaluation der Universität Siegen. Doch trotz dieser praktikablen Alternative erwarten uns Debatten über ganz neue Modelle eines christlichen Religionsunterrichts für alle, für die der konfessionell-kooperative Unterricht womöglich nur eine Zwischenstation ist.
Begrenzte Horizonte weiten
Das neue Schuljahr bringt also jede Menge Herausforderungen mit sich – doch ich betrachte diese als Gestaltungs-Chancen. Mich macht zuversichtlich, dass unsere 20 erzbischöflichen Schulen lebendige pastorale Orte sind, an denen der Glaube ein Zuhause hat. Die Nachfrage nach Plätzen in unseren Schulen ist ungebrochen hoch – auch überkonfessionell. Was mich besonders freut: In diesem Jahr haben die Mädchen und Jungen, die vor drei Jahren als Pioniere auf unsere neue Grundschule St. Michael gekommen sind, gemeinsam im Paderborner Dom ihre Erstkommunion gefeiert – ein schönes Zeichen dafür, dass gemeinsames Lernen, Glauben und Aufwachsen eine gute Kombination ist, die auch in Corona-Zeiten stärkt und trägt.
Die wichtigste Funktion des Religionsunterrichts bleibt für mich, begrenzte Horizonte zu weiten und Antworten zu suchen auf die großen Fragen unserer Welt. Dies gilt für das Feld Krieg und Frieden ebenso wie für Menschenwürde in jeder Lebensphase, Klimaschutz oder Verantwortung für die eine Welt. Noch mehr als in jedem Unterrichtsfach nimmt dabei die Persönlichkeit der Lehrkraft eine zentrale Rolle ein. Da wo ein Pädagoge oder eine Pädagogin ein authentisches, tolerantes, aber auch entschiedenes Zeugnis ablegt, da können sich Horizonte für offenes Fragen und gemeinsames Suchen nach Antworten öffnen. Oder anders gesagt: „Religion eröffnet einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit, der durch keinen anderen Modus der Welterfahrung ersetzt werden kann“ (Die deutschen Bischöfe: Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen. Bonn 2005). Ich bin sicher: Dies geschieht in unseren Schulen. Mit dieser Perspektive gehe ich gerne in ein neues Schuljahr.
Ihr Dompropst Monsignore Joachim Göbel